Die Hasenjagd

Von Reinhold Szews

Zweieinhalb Tage vor Ostern ging ich dann doch mal zum Einkaufen los. Auf jeden Fall musste Toilettenpapier besorgt werden. Seit über drei Wochen war das knapp, kaum jemals lagen ein paar Pakete im Regal von Drogerie- oder Supermärkten.   Vor dem Netto-Laden stand eine Warteschlange. Die Leute hatten Mundschutz vorgebunden, hielten sich zwei bis zweieinhalb Schritt voneinander entfernt am Einkaufswagen fest. Ich reihte mich ein.

     Die Schlange bewegte sich nicht. Niemand verließ den Supermarkt, niemand ging hinein. Geduldig standen alle da. Einer telefonierte. Mit ruhiger Stimme. Lachte kurz.  

   „Es geht heute morgen aber übertrieben langsam voran“, sagte die Frau vor mir über die Schulter blickend, „finden Sie nicht auch?“

    „Weiß nicht“,murmelte ich, „es geht überhaupt gar nicht vorwärts. Seit fast einer Viertelstunde stehe ich hier jetzt und bin keinen Zentimeter vorgerückt.“

     „Genau so ist es!“ Hinter mir rief das eine junge Frau mit Kind an der Hand. „Was ist denn bloß da im Laden los? Warum kommt gar keiner mehr raus?“   

  „Sie da ganz vorn“, rief ein Mann, „können Sie sehen, was im Laden los ist?“    „Nee – alles ruhig drinne. Nix zu sehen. An der Kasse steht keiner. Komisch.“

    „Also, das ist doch zu blöd. Gehen Sie einfach mal rein vorne. Vielleicht warten die nur darauf, dass einer reinkommt. Wenn an der Kasse keiner ansteht ...“ 

   „Ja, ja. Gehen Sie rein. Vorn der erste. Los doch. Wir wollen vorankommen.“     „Nicht so ängstlich. Passiert doch nichts. Wir brauchen Milch und Nudeln“     „Ja, und Klopapier! Kann jemand sehen, ob was im Regal liegt?“   

Der Erste in der Schlange schob in den Laden. Blieb drin. Niemand kam heraus. Zwei Minuten später traute sich der Nächste. Ich war der sechste in der Reihe und als ich vor die Eingangstür zu stehen kam, zögerte ich nicht allzu lange und schob meinen Wagen vor mir her hinein. 

   Im Laden standen die Kunden mit ihren Wagen weit auseinander gezogen in den Gängen zwischen den Regalen und bewegten sich nicht. Sie standen still und schauten ratlos um sich. 

   „Da“, schrie irgendwo einer, „da ist er wieder! Achtung, er ist schnell und springt einfach vorbei.“    „Nun halt doch mal einer den Hasen auf“, brüllte ein Marktbeschäftigter in seinem Verkäuferkittel und raste im Zickzack zwischen den Kundenwagen einem gigantischen Osterhasen mit Kiepe auf dem Rücken hinterher.    „Er hat das ganze Klopapier in seine Kiepe gestopft und will damit abhauen. Lasst ihn nicht raus.“ Der Marktleiter fuchtelte mit den Armen und hetzte herumschreiend durch die Gänge.   Ich schaute erstaunt, wie der riesige Hase behände alle Durchschlupfe nutzend den haschenden Armen der Beschäftigten immer wieder entwischte. Die Kunden standen weiter starr da und glotzten. Keiner wollte den Hasen berühren. Ich natürlich auch nicht. War ja schließlich Kontaktverbot. Man musste auf Abstand halten. Wenn sich das Ladenpersonal abmühte, den Hasen zu fangen, war das schließlich auch ihre Aufgabe. Die mussten das machen, die sollten und durften das bestimmt auch machen. 

   Der Riesenhase stand jetzt auf dem Laufband an der Kasse und setzte über die junge Kassiererin einfach hinweg. „Ha“, schrie der Marktleiter, „Ausgang verriegeln, sofort. Roter Knopf, Mädel, unter deinem Knie neben der Kasse. Drück den roten Knopf!“    Tatsächlich prallte der Hase an der Ausgangstürscheibe ab. Sauste schnurstracks zurück und bei der dritten, unbesetzten Kasse vorbei wieder zwischen die Regale. Ein außerordentlich durchtrainierter Hase, schoss es mir durch den Kopf.     „Hier“, krächzte von hinten aus dem Lager ein schmächtiger Regalräumer, „hier ist er. Ich habe ihn gefunden!“
   „Mann, Du auch grade, ausgerechnet Du“, meckerte der bauchige Marktleiter und keuchte mit langen Schritten zum Lagerraum hin.    „Oh nee, Mann, oh nee oh nee!“ Der Marktleiter kam aus dem Lager und hielt das schlaffe Hasenkostüm über dem Arm. Hinter ihm erschien der schmächtige Regalräumer mit der leeren Kiepe. Eine einzige Klopapierrolle kollerte heraus und kullerte aufgelöst über den Boden.    Die nahe dabei stehenden Kunden fielen auf die Knie und grabschten nach dem Klopapier. „Das nehm ich aber jetzt“, fauchte der Mann. „Nein, es ist meins. Ich war zuerst bei der Rolle“, kreischte eine Frau und die beiden begannen im Handgemenge das Papier zu zerfleddern.  

  „Also, ich nehm auch gern die Reste“, murmelte ein alter Mensch und sammelte einige Blatt vom Boden auf.    „Nun nehmen Sie einfach und gehen Sie damit nach Hause“, keuchte der beleibte Marktleiter mit Asthmaneigung die Streitenden an, als sie da mit Papierresten in den Händen vor der Kasse standen, „bezahlen ist nicht nötig. Geschenk des Hauses zu Ostern!“ Er hustete heftig. - „So, und jetzt geht alles seinen geordneten Gang hier weiter, klar meine Herrschaften? Klopapier ist aber weg. Hat der Osterhase geholt.“    „Wo ist der denn raus, der Hase?“ fragte eine Frau ihn.   „Irgendwo hinten, was weiß ich. Notausgang muss offen sein. Ist Vorschrift, gute Frau. Da kann ich nix machen.“ Er hüstelte in ein schon einmal benutztes Taschentuch.   „Aber ich war ganz sicher, dass es heute WC-Papier gibt hier im Laden“, sagte spitz eine hochgewachsene, teuer angezogene Dame. 

    „Gab's ja auch, verehrte Dame, gab's ja auch. Aber konnte ich ahnen, dass es mir der Osterhase klaut?“ Der Marktleiter schaute grimmig. „Wir haben ihn nicht erwischt. Er war zu schnell. Und – äch hm äch - gut ausgebildetes Jagdpersonal habe ich nun mal nicht.“   „Man sollte Gewehre ausgeben, jawoll, Gewehre zum Erlegen unerlaubter Osterhasen!“ schnaubte ein Grauhaariger und stieß seinen Gehstock mehrmals energisch gegen den Boden.   

„Ja und nun? Wie soll das denn gehen über Ostern? Ohne Toilettenpapier ...“   „Meine Herrschaften, bitte, ich kann's nicht ändern. Mehr haben wir nicht.“ Vom lauten Reden musste der Marktleiter wieder heftig husten. Er schneuzte sich aus und raunzte: „Vielleicht suchen Sie Ostern mal unter den Büschen im Garten, ob der Hase welches versteckt hat.“ 

  „Also hör'n Sie mal – das ist ja wohl ...“ Die teuer gewandete Dame wandte sich mit erhobener, kraus gezogener Nase ab und stakste aus dem Laden.    „Hartgekochte Eier machen Verstopfung. Man muss sie einfach ganz hart kochen“, schnarrte ein bärtiger Mensch und hob grinsend den Zeigefinger.     „Also nee - und wenn schon. Ich weiß ja nicht ...“ sagte eine Frau skeptisch. 

    „Und vorher gut durchfärben, mit richtig viel Chemiefarbe. Sowas hilft gegen jede Art Bazillen, sage ich immer“, lachte hässlich ein anderer Mann.     „Ach, was Sie nicht sagen, Sie mit Ihren Eiern.“ Eine ältere Frau wiegte den Kopf.    „Eier sind noch nicht aus!“ sagte die Frau an der Kasse, „soweit ich weiß jedenfalls nicht.“

   „Ich müsste dann aber noch mal zurück zum Regal mit den Eiern – wenn Sie mich also durchlassen nach hinten noch mal“, sagte schüchtern eine junge Frau mit Kindern.   „Aua ha – da ist schon wieder so ein großer Osterhase im Geschäft“, brüllte von weit hinten im Laden eine Männerstimme. „An den Eiern!“     „Man sollte Klopapier und Eier streng bewachen und nur kontingentiert ausgeben“, donnerte der Grauhaarige, „mit bewaffneter Mannschaft. Wie nach'm Krieg, als wir ...“ 

    „Das ist aber doch ganz normal, wenn ein Osterhase vor Ostern Eier besorgen will“, sabberte krächzend der Marktleiter, „dagegen ist nun wirklich nichts einzuwenden.“ Er rollte mit den Augen, die Nase triefte und er schwitzte entsetzlich, wie die gerade den vorgeschriebenen Abstand zu ihm wahrenden Kunden jetzt bemerkten.    

Schreib. & Foto.Art

Patrizia Held M.A.

Elmshorn

patriziaheld@gmx.de

"Niemand urteilt schärfer als der Ungebildete, er kennt weder Gründe noch Gegengründe."

Anselm Feuerbach

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erschienen: 1. Aufl. 2017